Vor 50 Jahren: Erinnerungen an 1974

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RF_NWD
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Registriert: Fr 31. Aug 2018, 22:33

Vor 50 Jahren: Erinnerungen an 1974

Beitrag von RF_NWD »

Der WDR erinnert heute an die Verhaftung des DDR Spions Günther Guillaume am 24.04.1974 und an den zwei Wochen später erfolgten Rücktritt von Willy Brandt.
https://www1.wdr.de/nachrichten/willy-b ... w-100.html
Edit Der NDR ebenfalls:
www.ndr.de/geschichte/koepfe/DDR-Spion- ... me105.html


Ein gravierender Einschnitt damals und für viele in der Erinnerung auch heute noch. Am Türknopf einer Wohnung im Erdgeschoss klebt seit Jahren der rote Button „Willy wählen“
Als Teenager damals hatte ich andere Sorgen. Ich erlebte die 1973/74 als persönlich krisenhaft. Mein Vater erlitt zu Ostern 1973 einen Herzinfarkt, war Monate im Krankenhaus. In die Zeit fiel der Umzug aus der Altstadt ins Haus meiner Oma im bürgerlichen Villenviertel. Das Krankengeld war knapp. Wir mussten sparen. Im Winter kam der Ölpreisschock für meine Oma. Sie dreht den Heizungsregler im Treppenhaus abends immer ganz unten. Im Dachgeschoss auf der Nordseite habe ich manchmal jämmerlich gefroren. Man verfolgte amüsiert die Sonntagfahrverbote. Meine Mutter schickte uns zum Einkaufen in die neuen Selbstbedienungsmärkte am Stadtrand. Das machte ich sowieso lieber, als am Tresen des Tante Emma Ladens schräg gegenüber anzustehen, wo der ganze Nachbarschaftstratsch verbreitet wurde. Man wurde da manchmal regelrecht verhört.
www.br.de/radio/bayern2/sendungen/radio ... c-100.html

In der Schule war krasser Lehrermangel. Manche Fächer fielen komplett aus. Die alten Lehrer, die schon meine Eltern unterrichtet hatten, machten noch im Rentenalter weiter. Schon damals redete man über die Bildungslücken der jungen Generation.

In den Zeiten, als mein Vater im Krankenhaus war und in den Rehas war, musste ich immer mein Kofferradio abgeben. Den Kassettenrekorder, den ich zur Konfirmation, die ohne meinen Vater gefeiert wurde, bekommen hatte, konnte ich zeitweise nicht sinnvoll nutzen. Mein Vater hörte im Krankenhaus in Stadthagen damals immer den neuen WDR 2. Was anderes war dort auch nicht brauchbar zu empfangen.

Kürzlich las ich in der Wochenendbeilage eine Erinnerung über das legendäre Fernsehjahr 1974.
Da kam damals viel neu dazu. „ Am laufenden Band“ von Rudi Carrell, Derrick, Catweazle oder Kojak. Im neuen Haus verpassten wir keine Folge von „ Ein Herz und eine Seele“ mit Ekel Alfred, der so seine eigenen Thesen zum Thema: „Willy wählen“ hatte. Erst in Schwarz-Weiß über WEST 3, das wir über die damalige Zimmerantenne, anders als in der Altstadt, sehr gut empfangen konnten. Später dann in Farbe im Ersten. Wir verfolgten zusammen mit dem „ Besuch aus der Ost-Zone“ die WM 1974 mit dem legendären Siegtor von Sparwasser für die DDR. Sonderlich politisiert war ich in den Jahren noch nicht. Das kam erst später 1976, als es um „Freiheit oder Sozialismus“ ging und die Politisierung auch unsere Schule erreichte.

Das Erlebnis von persönlichen und gesellschaftlichen Krisen, Umbruchserfahrungen und eine polarisierte Diskussion gab es auch damals schon. Meine Eltern hatten nur die „Welt“ und das Wochenblatt „Generalanzeiger“ (die „Welt am Freitag“) abonniert. Die Gegenposition holte ich mir dann aus der „Hannoverschen Presse“,( damals noch im Besitz der SPD), wenn meine Oma sie ausgelesen hatte. Natürlich auch aus den zahlreichen politisierten Jugendsendungen wie der „Radiothek“, wo man den „Wortbeitrag“ nach der Hitparade serviert bekam.

Im Rückblick gesehen. Vieles von dem, was wir heute beklagen und bejammern, war damals schon für uns präsent. Die junge Generation heute wird das vielleicht in 50 Jahren ähnlich sehen.
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